Fr 01.11.2024
DFG-Graduiertenkolleg
Architekturen Organisieren
Im DFG-Graduiertenkolleg „Architekturen Organisieren“ (3022), an dem die Goethe-Universität Frankfurt am Main, die Technische Universität Darmstadt, die Universität Kassel sowie das Max-Planck-Institut für Rechtsgeschichte und Rechtstheorie beteiligt sind, sind zum 01.11.2024 Stellen für Doktorand*innen und Postdoc zu besetzen.
Register here for the Q&A Meeting Organizing Architectures on July 15 at 6 pm:
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Kollegbeschreibung
Das Kolleg untersucht Architekturen als Produkte sowie als Anstöße kollektiver Prozesse: Es trägt zum einen der Tatsache Rechnung, dass sich in Architekturen vielschichtige gesellschaftliche Prozesse materialisieren, verkörpern und symptomhaft ausbilden. Zum anderen organisieren gebaute oder geplante Strukturen selbst gesellschaftliche Räume, die wiederum Einfluss auf die Projektion neuer Architekturen haben. “Architekturen organisieren” will diesen Spannungsraum zwischen organisierten Architekturen und organisierenden Architekturen untersuchen. Damit verschiebt das Kolleg den Fokus von bis heute im europäischen Diskurs dominanten Architekturkonzepten und Dispositiven (das schöpferische Subjekt, das künstlerische Einzelwerk, das Gebaute als Abschluss des Planens) hin zu einer Betrachtung ihrer prozessualen Bedingungen. Es betrachtet Architekturen nicht allein als Repräsentation gesellschaftlicher Ideen und Machtverhältnisse. Wie neuere soziologische Ansätze betonen, ist Architektur zugleich „Abdruck“ und Auslöser „subjekt- oder gar gesellschaftsformierender Affektivität“.
Organisiertheit und Kollektivität gehen darin eine spannungsreiche Wechselbeziehung mit Zuschreibungen individualisierter Verantwortlichkeiten und Wirkmächtigkeiten ein. Die Relevanz dieses Themas zeigt sich gerade mit Blick auf derzeitige Planungen wie die Linienstadt Neom in Saudi-Arabien, die Umsiedlung von Millionenstädten wie Manila und Jakarta in eine Planmetropole oder Elon Musks Kolonie auf dem Mars. In diesen (teils eskapistischen) Planungsfantasien spiegeln sich (ökonomische, politische und klimatische) aktuelle Krisen, sie werden jedoch nicht nachhaltig beantwortet. Das Kolleg nimmt deshalb Architekturen – mit Blick auf gegenwärtige Herausforderungen und aus dezidiert interdisziplinärer Perspektive – als Räume dynamischer Aushandlungsprozesse in den Fokus. Mit der Moderne als historischem Rahmen untersucht es die konfliktreiche Koexistenz kollektiver und individueller Gestaltungsmacht in Planungsprozessen. Neben einem neuen Blick auf die Architekturen der Moderne leistet es damit einen wichtigen Erkenntnisgewinn und Beitrag für die Sensibilisierung von Wissenschaftler*innen und Architekt*innen hinsichtlich planerischer Fragen und deren gesellschaftlicher Wirkung.
Thematischer Aufriss
Mit der Betrachtung von Architekturen als Organisiertes und Organisierendes lenkt das Kolleg den Blick auf die Kollektivitäten und Prozessualitäten des Planens sowie auf deren gesellschaftlichen Dynamiken. Voraussetzung hierzu ist eine stark interdisziplinäre Ausrichtung mit dem Potential, bisher getrennte Diskurse, die für das Thema von zentraler Bedeutung sind, strukturell und dauerhaft miteinander zu verbinden: architektur- und gesellschaftshistorische, soziologische, städtebauliche, medienwissenschaftliche, rechtshistorische und humangeographische Perspektiven ergänzen sich so zur Erforschung von Architekturen als multiperspektivische Phänomene und Instrumente. Historisch betrachtet, stellt sich die Auseinandersetzung mit den Architekturen der Moderne als idealer Ansatzpunkt für dieses Vorhaben dar. Großprojekte wie das „Neue Frankfurt“ waren im besonderen Maße von der Überzeugung geprägt, die Gesellschaft ließe sich mittels planerischer Organisationskonzepte ordnen. Initiiert wurden diese und andere Programme von bürgerlich-liberalen Kräften, die den „Volksstaat“ als ein „technisches Kunstwerk“ begriffen. Die Implementierung organisatorischer Strukturen, mit denen sich erst großmaßstäbliche Planungen realisieren ließen, war untrennbar mit der Ästhetisierung des modernen Nationalstaates (in Europa und seinen ehemaligen Kolonien) verbunden (Fahrmeir 2017).
Das Gebaute ist entsprechend nicht nur als Materialisierung von Rationalisierungsprozessen zu verstehen. In einer Art Rückkopplungseffekt bringt es ästhetische Wirkungen hervor, die wesentlich Wahrnehmung, Selbstverständnis und damit auch den Charakter von Organisationen und Institutionen bestimmen. Die Konvergenz architektonischer, staatlicher und allgemein organisationaler Funktionalität (besonders seit dem 18. Jahrhundert) zeigt sich in der Übertragung des Funktionsbegriffes von der Amts- und Wissenschaftssprache auf die Architektur oder in der Entwicklung neuer Verfahrens- und Präsentationsformate wie staatlich regulierten Wettbewerben und Bauausstellungen. In ihnen wurden entsprechend nicht nur avantgardistische Architekturmodelle vermittelt, sondern neue „Raumordnungen“. Hierfür beispielhaft sind die Ausstellung „Die Wohnung“ in Stuttgart (1927) sowie die „Section Allemande“ auf der Ausstellung der Société des Artistes Décorateurs in Paris (1930). Schon zuvor strebten Institutionen wie etwa das Royal Institute of British Architects (1872) (de Jong/Mattie 1995) oder der Verband Deutscher Architekten- und Ingenieur-Vereine (1897) die Vereinheitlichung der Architekturwettbewerbe an und lösten eine bis heute andauernde Folge immer neuer Wettbewerbsordnungen aus (Becker 1992). Sie stellten ein wichtiges Selektionsmittel dar, mit dessen Hilfe Staat, Politik und Ökonomie direkten Einfluss auf die zeitgenössische Architekturproduktion nehmen konnten. Wie das Beispiel des einflussreichen Jurors Max Bächer in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zeigt, waren damit in erheblichem Maße Möglichkeiten der Diskurssteuerung, der Patronage sowie der gestalterisch-planerischen Intervention verbunden. Dies gilt allerdings nicht nur für staatliche Institutionen und beschränkte sich keineswegs nur auf den Bereich der Planung. Netzwerke aus Architekt*innen, Historiker*innen, Planer*innen, Politiker*innen und Theoretiker*innen, von den CIAM bis zur Anyone Corporation, konkurrierten in neuer Weise um die diskursiv-räumliche Deutungshoheit in Fragen der Architektur, des Städtebaus und der Architekturtheorie.
Das Kolleg versteht die Funktionalitäten von Architekturen als untrennbar verbunden mit den Funktionalitäten des Staatskörpers, wie sie sich in seinen Organisationsregimen, in seinen Praktiken und Medien der Diskurssteuerung, der Kanonisierung, Normierung und Standardisierung ausdrücken; aber auch in Bezug auf organisierte Gegenbewegungen. Ersteres gilt nicht erst seit der paradigmatischen Haussmannisierung von Paris (1853-1870), oder für das Zoning Law von Manhattan (1915) sowie generell für Stadtvisionen der Moderne wie Ludwig Hilberseimers „Großstadt“ (1927) oder etwa Le Corbusiers Ville Radieuse (1930). In den europäischen Kolonien wird dieser Zusammenhang besonders deutlich. Gerade in der Entwicklung vom Imperialismus zum modernen Staat zeigt sich, wie die logistische und rationalisierte Konstruktion des Staates durch Organisationen, Gesetze, Netzwerke etc. nicht nur der Kolonialisierung, sondern in den Kolonien selbst der politisch-ökonomischen Ausbeutung dienten. Gezeigt werden konnte dies bereits an den Beispielen Indien, Eritrea, Süd-West-Afrika und Algerien. Seit einigen Jahren rücken zudem die Effekte von Postkolonialismus, Spätkapitalismus, Neoliberalismus und Globalisierung auf die Architektur- und Raumproduktion in den Fokus kritisch-historischer Untersuchungen.
Die organisierten (und organisierenden) Architekturen der Moderne beschränken sich damit keineswegs auf den engeren Rahmen einer baulich-räumlichen Gestaltung der Umwelt durch Architekt*innen, bestimmte ästhetische Programme oder architekturtheoretische Legitimationen. Sie entstehen vor allem mittels Konsortien, Genossenschaften, Kooperationen, Planungskollektive, Entscheidungsinstanzen und Gesetzgebungen, die auf der Grundlage ideologisch-politischer, hygienischer, ökonomischer und ökologischer Zielsetzungen die Gestaltung der Gesellschaft oder gar deren Kontrolle anstreben. Autorität beziehen diese aus der entwurfs- oder baupraktischen Erfahrung ihrer Akteur*innen und aus der inneren Logik von teils komplexen Verfahrensweisen. Deren administrativ-bürokratischen Strukturen, Steuerungselemente, Auswahlverfahren und Visualisierungsstrategien sollen Objektivität dort gewährleisten, wo Gesellschaften in subjektive Lebensentwürfe und Unordnung auseinander zu fallen drohen. Mehr als anderswo sind hier gesellschaftliche Ordnungsvorstellungen mit einem normativen Wirklichkeitsanspruch verbunden, der nicht selten im Widerspruch zur Lebensrealität steht (Sennett 2018).
Neben den darin manifesten Organisations- und Ordnungsregimen sind entsprechend auch Prozesse nichtstaatlicher Aneignung, Umschreibung oder Besetzung von architektonischen und urbanen Räumen von großem Interesse sowie die Organisation derer, die an räumlicher Gestaltung teilhaben wollten, aber nicht konnten oder durften (Förster et al. 2016). Hierfür beispielhaft wären Praktiken des Squattings, des Occupy Movements, der Aufbau informeller Do-it-Yourself-Archive, die Proteste im Hambacher Forst oder #BlackLivesMatter sowie Protestarchitekturen, die Deinstallation und Translokation von Monumenten als räumlich-politische Organisationsformen zu nennen. Methodisch ist besonders der Wechsel der Perspektive weg von offiziellen Narrativen von Interesse, zum Beispiel durch Oral Histories diverser Interessengruppen und Protagonist*innen, um archivalische Lücken zu schließen sowie eine Umorganisation architektonischen Wissens und räumlicher Wahrnehmung durch feministische und queere Raumtheorien. Da Architektur als Praxis immer noch vom Mythos eines männlichen, weißen Entwerfers dominiert wird, bedarf es auch hier der historisch-kritischen Aufarbeitung ihrer komplexen Geschichte, um Zugänglichkeit und gleichberechtige Beteiligung möglichst vielfältiger Gruppen zu dokumentieren und zu fördern. Deshalb stehen im Kolleg nicht nur thematisch Fragen von Strukturen in der Architektur (und damit auch von Kontrolle und Macht) im Zentrum, sondern auch die Erweiterung und Brechung kanonischer Konventionen durch Einbezug vielfältiger Perspektiven, da thematische und inhaltliche Diversität in der Wissenschaft nicht simuliert werden kann, sondern konkret umgesetzt und gelebt werden muss.
Ansatz, Methoden, Innovationsgehalt
Das Graduiertenkolleg fokussiert das Spannungsverhältnis zwischen projektiven und reaktiven Prozessen der Architekturproduktion. Im Anschluss an neuere Forschungen, betrachtet es Architektur darin nicht mehr nur als gebauten Solitär. Unter Architekturen verstehen wir neben städtebaulichen Ensembles ebenso Infrastrukturen. Das Kolleg perspektiviert Architekturen zusätzlich als Diskurs von Akteur*innen unterschiedlicher Professionen und Ambitionen, da sich die Betrachtung der sozialen Ordnungen nicht von architektonischen Ordnungen separieren lassen. Was im jeweils spezifischen Fall als Architekturen zu verstehen ist, geht auf komplexe gesellschaftliche Aushandlungsprozesse zurück. Entsprechend verstehen wir das Adjektiv „modern“ nicht als primäres Attribut gemäß einer stilistischen oder ästhetischen Einordnung von Architekturen, sondern als deren kontextuellen Bedingungsrahmen.
Zugleich verfolgt das Kolleg auf der Grundlage interdisziplinärer Ansätze (Architektur- und Kunstgeschichte, Architekturtheorie, Rechtsgeschichte, Geschichts-, Politik- und Medienwissenschaften, Humangeographie, Städtebau und Soziologie) einen systematischen Zugang, der sowohl historische Analysen als auch diachrone Vergleiche und Gegenwartsanalysen erlaubt. Dabei verbindet es gewöhnlich separat verwendete Methoden der Institutionen-, Organisations-, Planungs- und Staatstheorie, der politischen Ikonographie, der Architektursoziologie, der Diskursanalyse, der Medien- und Netzwerktheorie. So wird es in innovativer Weise möglich, Grundannahmen der Architekturgeschichte und -theorie einer kritischen Revision zu unterziehen. Auf dieser Grundlage sollen neue Forschungsfragen entlang der sich teils überlagernden Ordnungsregime der organisierten Moderne (Liberalismus, Nationalismus, Faschismus, Sozialismus, Kapitalismus u.a.) entwickelt werden. Transparenz, Funktion, Rationalität und Ordnung werden entsprechend als in die gesamtgesellschaftliche Organisation räumlicher, sozialer und territorialer Ordnungsmacht eingebettete Konzepte verstanden.
Arbeitsfelder
In den drei Arbeitsfeldern „Institutionen“, „Netzwerke“ und „Diskurse“ fragt das Kolleg nach der Genese von organisierten und organisierenden Architekturen, deren Konsequenzen für gesellschaftliche Räume und planerischen Entwicklungsoptionen. Dabei betrachten wir die drei genannten Arbeitsfelder nicht als präzise voneinander zu trennende, wissenschaftliche Perspektiven. Die Frage nach Institutionen, Netzwerken und Diskursen bildet unabhängig von den historisch und methodisch verschiedenen Zugängen des Kollegs den gemeinsamen Rahmen aller Beteiligten. Über eine Analyse der Institutionen wird auf gegenseitige Abhängigkeiten von Akteuren in Systemen fokussiert; bei einer Betrachtung von Netzwerken werden Erkenntnisse über weitreichende Verflechtungen und deren strukturellen Gegebenheiten möglich; in der Erforschung von Diskursen wird die Konstruktion von Narrativen und Kanon genauso untersucht wie Fragen der Rezeption und Modellbildung. Das Kolleg fordert damit den wissenschaftlichen Nachwuchs heraus, Architekturen als Produkte komplexer, kollektiver und organisierter Praktiken innerhalb gesamtgesellschaftlicher und politischer Prozesse interdisziplinär zu erforschen, um ihrem polykausalen Zustandekommen und Wirken Rechnung zu tragen. Dementsprechend sind Wissenschaftler*innen aus verschiedenen Disziplinen und Forschungsrichtungen beteiligt, die den Kollegiat*innen unterschiedliche Sichtweisen auf Architekturen bieten.
Arbeitsfeld 1: Institutionen
Im Mittelpunkt des Arbeitsfeldes Institutionen stehen Prozesse der gelenkten Orientierung, Reglementierung und „Organisierung“ von Prozessen, Menschen und Dingen. Hier treten Konzepte der Effizienz, Funktionalität, Geschichtlichkeit, Hygiene, Objektivität, Rationalität, Präzision, Nachhaltigkeit, Normativität, Professionalisierung, Partizipation, Sicherheit und Transparenz sowie deren mediale Repräsentationen in den Vordergrund und werden auf ihre legitimatorische, diskurssteuernde und ästhetische Funktion hin untersucht. Historisch erfolgten die bürokratisch-administrativen Verlagerungen der Planungstätigkeiten durch die Implementierung von Oberbaudirektionen sowie Bau- und Planungsdezernaten, die Ausdifferenzierung eines formalisierten Auftrags- und Wettbewerbsverfahrens, der institutionalisierten Ausbildung in Bauakademien und technischen Hochschule, die juristische Regulierung von Planungs-, Bau- und Wettbewerbsprozessen, die Gründung von Architektenvereinen, Interessenverbänden und Organisationen wie dem Bund Deutscher Architekten 1903 in Frankfurt am Main sowie dem Deutschen Werkbund 1907 in München (Schwartz 1999). Mit den totalitären Regimen des frühen 20. Jahrhunderts lässt sich eine weitere Welle der staatlichen Einflussnahme auf die Planungspraxis sowie deren Bürokratisierung beobachten. Die damit verbundenen Ideale und Ideologien wirkten bis weit über die 1960er Jahre hinaus in den Planungsdiskursen nach. Nach dem Krieg entstanden etwa mit den Banlieues in Frankreich auf kommunaler Ebene zahlreiche Großprojekte, die im besonderen Maße politische Programme, sozialwissenschaftliche Forschungen, aktuelle gesellschaftliche Fragen, kollektive Identitätsbildungsprozesse, Erkenntnisse des internationalen Planungsdiskurses sowie Reformen der Architekt*innenausbildung miteinander verbanden. In den letzten Jahren rückten Architekturen staatlicher, nichtstaatlicher und supranationaler Organisationen wie die UNESCO, UN, die EU, aber auch von Bauträgern, Unternehmen, Banken und Versicherungsgesellschaften sowie von regulatorischen Instanzen in den Fokus der Forschung. Das Arbeitsfeld erforscht diese für die Architekturgeschichte eminent wichtigen Entwicklungen weiter und bezieht dazu grundlegende Erkenntnisse der Organisationssoziologie, Institutionenanalyse sowie der Verwaltungswissenschaften ein. Dabei nimmt das Kolleg grundsätzlichen an, dass die „verkörpernde Selbstdarstellung einer Ordnung“ durch die „symbolische Kodierungskraft von Architektur“ (Rehberg 2009) ein entscheidendes Kriterium für die Legitimation von Institutionen darstellt. Forschungsfragen ergeben sich z.B. aus folgenden Untersuchungsgegenständen: kollektive und behördliche Planung und Denkmalpflege, Archive, politische Entscheidungsprozesse, Normierung, Gesetzgebung, institutionelle Legitimationsstrategien, mediale Repräsentationsvorgaben, Wettbewerbsverfahren, Beteiligungsstrategien und der gesamte nicht reglementierte Bereich informeller Handhabungen, darunter auch Abweichungen und erlaubte Regelverletzungen sowie die medientechnologische Organisation des Entwerfens; aber auch die architektonisch-monumentale Verkörperung von Institutionen sowie patriarchalisch geprägte Strukturen, Prozesse und Vorbilder.
Arbeitsfeld 2: Netzwerke
Parallel zu den Institutionalisierungsprozessen der Moderne gewinnt ein polyzentrales Verständnis von Raum zunehmend an Bedeutung: Straßen- und Schienensysteme werden beispielsweise seit dem Ende des 18. Jahrhunderts als Netze vorgestellt, Gartenstädte und Siedlungskomplexe als über Verkehrs- und Kommunikationswege miteinander verbundene Knotenpunkte. Im Zeitalter der Digitalisierung entstehen immer komplexere Raumkonfigurationen, die eine eigene spezifische Topographie jenseits realer Orte entfalten. Der Netzwerkbegriff interessiert das Kolleg nicht allein als historisches oder zeitgenössisches Phänomen einer infrastrukturellen und medientechnologischen Neuordnung des Raumes. Anknüpfend an kulturwissenschaftliche Interpretationen sieht es darin eine heute mehr denn je wirksame Kulturtechnik, die in einem umfassenden Sinne Beziehungen zwischen Lebewesen, Dingen und Ideen organisiert. Entsprechend befasst sich das Arbeitsfeld nicht nur mit dem materiell gebauten Netzwerk, sondern auch dem Netzwerk in seiner sozial-gesellschaftlichen Begrifflichkeit als Komplex aus Akteur*innen, Medien und Objekten, aber eben auch aus Institutionen und Organisationen. Angesichts dieser hybriden Verfasstheit von Netzwerken stellt sich im Anschluss an zahlreiche Reflexionen zum Netzwerkbegriff am Anfang dieses Jahrhunderts die Frage, ob die „Dichotomie zwischen Kultur und Natur“ (Rudolph-Cleff/Gehrmann 2020), zwischen „organisch“ und „artifiziell“ (Böhme 2004), zwischen Realpräsenz und medialer Realität nicht als ein moderner Mythos zu betrachten sei (Latour 2007; Latour/Yaneva 2008; Martin 2003). Zu beleuchten wäre dies insbesondere in Bezug auf die Annahme einer ontologischen Differenz zwischen dem schöpferischen Subjekt und den ihm gleichsam objekthaft gegenübergestellten Organisationen, Institutionen, Netzwerken und Medien. Angesichts einer zunehmend netzwerkartig strukturierten Welt, stellt sich allerdings mehr denn je die Frage nach dem Erkenntnispotential solcher Erklärungsmodelle für die Untersuchung formalisierter Planungsprozesse, normativer Visualisierungsstrategien, organisatorisch-institutioneller Verfahrensweisen und Expertenkulturen. Im Rahmen des Kollegs kommt dem Konzept des Netzwerks die übergeordnete Bedeutung eines Erkenntnisinstruments zu. Anders als bisherige Forschungen zu biographischen Verflechtungen der Protagonist*innen in der Architekturgeschichte liegt der Fokus des Arbeitsfeldes auf organisatorischen Prozessen, politischen Bündnissen, ökonomischen Abhängigkeiten oder Institutionalisierungen sowie deren repräsentativen und bürokratischen Formen. Es werden Strukturen von Verbänden, Vereinen, Kammern, Vertreter*innen der Bauwirtschaft sowie privaten und informellen Netzwerken und deren Formen des „Sich-Organisierens“, wie Organigramme, Zuständigkeitsverteilungen, Austauschformen, Art der Zusammenkünfte und Kommunikationsmedien untersucht. Dabei spielen Aspekte wie Interessensvertretung, Selbstverwaltung, Kollektivierung und Austausch, Distinktion und Gruppendynamiken eine Rolle: Interpersonelle Repräsentationen (wer vertritt wessen Interessen in welchen Netzwerken, welche Konfigurationen bilden Interessen welcher Gruppierungen ab), aber auch Handlungsanweisungen und Zielvereinbarungen von NGOs oder der UN, sowie lokale Maßnahmen wie Bürgerbegehren oder -beteiligung in Planungsprozessen werden mit Fragen von Diversität und (unterschiedlichen) Sichtbarkeit der beteiligten Gruppen und Akteur*innen, Protest- und Alternativbewegungen zusammengeführt.
Arbeitsfeld 3: Diskurse
Das Kolleg erforscht wie Diskursräume konstruiert und dekonstruiert werden, welche Medialitäten und Archive als Evidenz und Berechtigung herangezogen oder ignoriert werden, und wie wissenschaftliche Diskursbildung sich in Architekturformen manifestiert. Als Bedingung architekturrelevanter Diskurse sind dabei disziplinäre, soziale, räumliche und digitale Zu- und Unzugänglichkeiten ebenso in Rechnung zu stellen wie die Frage, wie Diskursdominanz strukturell geschaffen, verteidigt und umkämpft wird. Das öffentliche Interesse an Architektur ist in der Moderne mit neuen Formaten und Medien der Reflexion wie Essays, Berichterstattungen, Polemiken, Kritiken und Manifesten verbunden. Auch dienten die Architekturen der Moderne zunehmend der Projektion ideologisch-politischer Ordnungsvorstellungen sowie der institutionellen Selbstdarstellung. Beides lässt sich unschwer an der Prominenz neuer Bauaufgaben (Museen, Parlamentsbauten, Banken, Börsen usw.) und den gesellschaftlichen Debatten, die sich bis heute daran entzünden, nachvollziehen. Beispielhaft seien hier das Palais de Justice de Bruxelles (1866-1883), die Projekte Georges-Eugène Baron Haussmanns in Paris (1853-1870), das Palais des Nations in Genf (1927), der UNESCO-Hauptsitz in Paris. In jüngerer Zeit führten z.B. die Hauptstadtplanungen in Berlin, Ground Zero in New York oder die neue Frankfurter Altstadt zu nennen. Mit dem Aufkommen korporativer Organisationen wie den Kapitalgesellschaften und Interessengemeinschaften (wie Vereine oder Verbünde) Ende des 19. Jahrhunderts einerseits und der Ausweitung des staatlichen Interventionsbereiches andererseits lässt sich eine immer engere Verquickung von Politik, Wirtschaft und Staat beobachten. Seit dem wachsenden Einfluss der Massenmedien im frühen 20. Jahrhundert und endgültig mit Globalisierung und Digitalisierung im 21. Jahrhundert erreichten derartige Verflechtungen ihren vorläufigen Höhepunkt. In jüngeren Entwicklungen spielen Real-Labore eine zunehmend wichtige Rolle in der Stadtentwicklung, in denen neben zeitlich-begrenzten Veränderungen im öffentlichen Raum (z.B. Sperrung für den motorisierten Verkehr) auch Daten zu den damit verbundenen Zielen (z.B. mehr Fahrradfahrer*innen) erhoben werden (Pandit et al. 2020). In wie weit die dabei gewonnenen Erkenntnisse in den politischen und gesellschaftlichen Diskurs einfließen und längerfristige Planungen beeinflussen ist bisher wenig untersucht. Für das Arbeitsfeld zentral ist die Frage nach der (mehr oder weniger strukturellen) Einbindung diverser Akteur*innen und Interessengruppen. Relevanz erlangen Konzepte wie das „Sprachrohr“, Stellvertretung und Repräsentanz, Ideologien und Lebensweisen, die Verbindung mit politischen Interessen sowie Formen und Möglichkeiten der Kritik. Von Interesse sind dabei Narrative, mediale Berichterstattungen (wer schreibt wo, wann und wie über Bauvorhaben?), digitale Plattformen, Vermittlungsangebote wie Ausstellungen und Führungen sowie jegliche Formen von Architekturkritik und -journalismus.
Qualifizierungs- und Betreuungskonzept
Das Ziel des Kollegs ist die Qualifizierung der Kollegiat*innen für universitäre und außeruniversitäre Berufsfelder durch eigenständige wissenschaftliche Arbeit im Rahmen eines exzellenten, interdisziplinären und klar strukturierten Forschungs- und Qualifizierungsprogramms. Der wissenschaftliche Nachwuchs kann sich in den Disziplinen der Architektur- und der Kunstgeschichte, der Architektur und der Stadtplanung, der Soziologie, der Humangeographie, den Geschichts-, Medien- und Politikwissenschaften sowie der Rechtsgeschichte weiterqualifizieren. Die Kollegiat*innen können interdisziplinäre Schnittstellen erkunden, an denen sowohl in der Forschung als auch in der Praxis eine besondere Dynamik zu erwarten ist. Die Qualifizierung im Kolleg erfolgt einerseits durch die individuelle fachbezogene Dissertation, andererseits durch zusätzliche Angebote und Lernformate zur Erweiterung der wissenschaftlichen Fachkenntnisse und Fähigkeiten. Das Kolleg bettet die spezifischen Promotionsvorhaben in ein strukturiertes Promotionsprogramm mit fester Laufzeit ein und bietet inter- bzw. transdisziplinäre Betreuung. Bei der Erarbeitung des vierjährigen Promotionsprogramms wurde auf ein Gleichgewicht zwischen regelmäßigen Veranstaltungen und Zeiten intensiven wissenschaftlichen Arbeitens geachtet. Das Qualifizierungskonzept sieht verschiedene Betreuungs- und Arbeitsformen sowie Kooperationen mit außeruniversitären Einrichtungen vor, die eine angemessene Betreuung gewährleisten und den Kollegiat*innen die Möglichkeit bieten, ein breites professionelles Netzwerk aufzubauen. Die Kollegstruktur orientiert sich an den drei interdisziplinären Arbeitsfeldern. Alle Promotionsvorhaben ordnen sich jeweils primär einem der drei Arbeitsfelder zu, sodass ein themenbezogener Austausch zwischen Nachwuchswissenschaftler*innen verschiedenster Forschungsrichtungen entsteht. Die zwei Postdoc-Stellen nehmen Brückenpositionen ein. Da sie im Rahmen des Kollegs die nächste Qualifikationsstufe (Habilitation, Assistenzprofessur, Nachwuchsgruppenleitung) anstreben, übernehmen sie in einzelnen Veranstaltungen erste leitende Funktionen und können damit ihre Kompetenzen für die weitere wissenschaftliche Laufbahn ausbauen. Zugleich bleibt ihnen genug Raum, um ein Forschungsvorhaben mit einer übergreifenden Perspektive zu entwickeln und sich so ein eigenständiges und weithin sichtbares Forschungsprofil aufzubauen. Neben den Gastwissenschaftler*innen, die für Workshops, Ringvorlesung oder die Abschlusstagung eingeladen werden, werden zwei Mercator-Fellows pro Förderjahr relevante Fachdiskurse einbringen und das Kolleg international vernetzen.
Das Kolleg soll ein diskursives und kooperatives Umfeld schaffen, wie es für gutes wissenschaftliches Arbeiten in Projektzusammenhängen kennzeichnend ist. Die obligatorischen Veranstaltungen (Basiskolleg, Workshops, Ringvorlesungen) binden die jeweiligen Einrichtungen in den breit angelegten Diskurs ein und befördern den interdisziplinären Austausch auch zwischen den Wissenschaften, der Theorie und der Praxis. Entscheidend für die Schaffung eines solchen Umfeldes sind die Auswahl der Kollegiatinnen und Kollegiaten, das Betreuungskonzept und die konkreten Inhalte des Promotionsprogramms.
Beteiligte Wissenschaftler*innen / Principal Investigators | Fachgebiet |
Prof. Dr. Jens Borchert | Politische Soziologie/Staatstheorie (GU) |
PD Dr. Peter Collin | Europäische Rechtsgeschichte (MPI) |
Prof. Dr. Andreas Fahrmeir | Neuere Geschichte (GU) |
Prof.’in Dr. Sybille Frank | Stadt- und Raumsoziologie (TUDa) |
Prof.’in Dr. Susanne Heeg, Susanne | Geographische Stadtforschung (GU) |
Prof. Dr. Rembert Hüser | Medienwissenschaft (GU) |
Prof. Dr. Martin Knöll | Entwerfen und Stadtplanung (TUDa) |
Prof.’in Dr. Antje Krause-Wahl | Gegenwartskunstgeschichte (GU) |
Prof. Dr. Carsten Ruhl | Architekturgeschichte (GU) |
Prof.’in Dr. Christiane Salge | Architektur- und Kunstgeschichte (TUDa) |
Prof.’in Dr. Annette Rudolph-Cleff | Entwerfen und Stadtentwicklung (TUDa) |
Prof.’in PhD Alla Vronskaya | Geschichte und Theorie der Architektur (UK) |